Frau Holle segnet die Fluren

Im Reich der Frau Holle

Annette Rath-Beckmann
Historikerin | Matriarchatsforscherin

Holle-Orte und Mythen



"Frau Holle besaß viele Kultberge in Deutschland, Österreich und der Schweiz, häufig 'Frauenberge' genannt, und der berühmteste ist der Hohe Meißner bei Kassel in Hessen. Dort hat sich die Tradition dieser Göttin am längsten erhalten."

Heide Göttner-Abendroth, Frau Holle und das Feenvolk der Dolomiten, 
Königstein a.T., 2005, S. 136


Das Meißner-Plateau ist, wenn wir von einem alten Holle-Kult, der hier praktiziert wurde, ausgehen, an vielen Orten mit diesem Kult verwoben, ebenso wie das direkte Umland des Bergmassivs. Der vor allem von Karl Paetow aus diversen Quellen gesammelte Mythen-Kreis um die Frau Holle verortet einen Großteil dieser Mythen auf dem Meißner selbst und in den umliegenden Dörfern und Gemarkungen.

vgl. Karl Paetow, Frau Holle: Märchen und Sagen,Kassel, 1952, S. 132: Quellenangaben zu den einzelnen Mythen; Ders., Frau Holles Weg, Eschwege, 1956

Karl Kollmann weist in seinem Werk "Frau Holle und das Meißnerland: einem Mythos auf der Spur", auf die Bedeutung von Sagen und Mythen für die Regionalgeschichte hin und stellt fest:

"Im nordhessisch-westthüringischen Gebiet finden sich verstreut immer wieder Sagen, in denen die handelnde Gestalt eine segenspendende, auch strafende holde oder 'unholde' Frau ist, die meistens als 'Frau Holle' bezeichnet wird ... Um den nordhessischen Meißner verdichten sich diese Sagen, so dass dieser als 'Berg der Frau Holle' überall bekannt ist."

Karl Kollmann, Frau Holle und das Meißnerland: Einem Mythos auf der Spur, 2. erw. Aufl.,
Heiligenstadt, 2012, S. 195


Der Meißner (ursprünglich Weißner oder Wißner) ist noch immer ein Kultort der Frau Holle, 'der bekanntesten und beliebtesten in Mitteleuropa überlieferten Göttin-Gestalten'

"Wie jede Große Göttin besaß sie zahlreiche Kultorte; sie liegen in den Land­schaften Norddeutschlands, Mitteldeutschlands, Bayerns, Böhmens und Tirols und werden häufig Frauenberge genannt. Der wichtigste ist der Hohe Meißner, der heilige Holle-Berg südöstlich von Kassel, nahe an der Grenze zu Thüringen im Osten. Er ist eine isolierte, jähe Erhebung von 750 m mit einem Hochplateau aus Basalt. Mulden auf dem Hochplateau wurden durch das Wasser zu Seen und Teichen, von denen die meisten heute verlandet sind. Ein kleiner See, der Frau Holle-Teich, ist heute davon noch übrig. Eine besondere Flora belebte den Meißner, sie trug alpinen und subarktischen Charakter, doch wurde sie durch den Braunkohleabbau auf diesem Berg weitgehend zerstört. Diese Flora weist auf ein kaltes Klima auf dem Hochplateau hin, denn durch seine exponierte Gestalt empfängt der Meißner viel früher als seine Umgebung im Herbst schon Schnee, und viel länger als das Umland ist er im Frühling noch verschneit. So erscheint er häufig als ein weißer Berg, worauf sein richtiger Name Weißner - statt Meißner - hinweist, und damit ist er ein ausgezeichneter Sitz der Frau Holle in ihrem Aspekt als Weißer Göttin des Himmels."

Heide Göttner-Abendroth, Matriarchale Landschaftsmythologie von der Ostsee bis Süddeutschland, Stuttgart, 2014, S. 61

Frau Holles Heimkehr zum Meißner


n den verschollenen Tagen der Vorzeit zog einmal Frau Holle wieder, wie oft und oft, über die Heimaterde dahin. Überirdisch, ja ungeheuer ist die Waltende wohl von den Alten zuweilen gesehen worden. Denn von dem Harzgebirge bis an die Mosel, vom Ungarland über die Alpen bis an die Ostsee und weiterhin um die ganze Erde reicht ja ihr Reich. Solcherart konnte es auch geschehen, daß sie an vielen Orten zur nämlichen Stunde den Menschen erschien. Denn sie wanderte weit, die Wetter zu stellen, die Fluren zu segnen vor Hagelschlag und Ungemach, die Tiere zu schützen und überall in den Menschenhütten die Herzen zu wiegen.

So fuhr sie auch diesmal, das Haupt in den Wolken, über die Berge zurück auf den Meißner, wo sie am liebsten verweilte. Müde von weiten Wegen, ihr Schleier bestaubt von den vielen Straßen, war ihr im Absturz zackiger Felsen ein Stein in den Goldschuh gerutscht. Wie sie die Werra über­schritt und bei Eschwege jenen Gebirgsstock erkannte, den sie den Hunsrück heißen, so dachte sie wohl: "Der ist mir die rechte Fußbank", stützte den schmerzenden Fuß auf den Bergrücken, bückte sich, schnürte den Schuh auf und stülpte ihn um. Da polterte der Felsbrocken heraus und schlug donnernd in den Boden. Hier liegt er noch heute und ist als die Blaue Kuppe weithin bekannt.

So sahen sie ein paar Bauern, die eben von ihrer Pflugschar erschrocken die Blicke zu ihr erhoben. Die Augen der Wanderin standen beim Morgenstern, der Mantel und ihre Nebelröcke schleiften wolkenumwallt über die Berge und Felder. Doch wo ihr Fuß trat, da schoß der Saft in die Wintersaat.

Grafik links: "Frau Holle segnet die Fluren"

Abb. in: Karl Kollmann, Frau Holle und das Meißner Land: Einem Mythos 
auf der Spur, Seite 19


Die Männer schauten ihr lange nach, bis ihre Gestalt sich in den
dampfenden Hängen und Schluchten des Meißners verlor. Wie
nun Frau Holle die Huten des mächtigen Berges betrat, dachte
sie wohl in ihrem Sinn: "Hier bist du zuhaus, nun ruh dich aus!"
Stand doch da ihr steinerner Stuhl auf der Wiese, die ihre  Morgengabe genannt wird, und lud die Wandermüde zum Sitzen.
So saß sie denn nieder auf ihrem Sessel aus blauem Basalt und
sah mit heimlicher Lust  die grünenden Gründe zu ihren Füßen.
Denn wie ihr Blick den Boden berührte, da schlugen die ersten
Blumen die Augen auf. Dann löste sie ihr windwirres Haar,
kramte den Kamm aus ihrem Gürtel und strählte ihre goldenen
Haare, daß sie wie Sonnenstrahlen im Frühlicht des Frühlings
ergleißten. Dazu sang sie ein Lied in den klingenden Morgen.
Wer je es gehört, der wird es niemals vergessen. Und dennoch
kann er die Worte nie wieder ergrübeln, und auch die Weise,
welche ihm immer im Ohre liegt, wird er nicht singen können
bis an sein Ende.

Wie nun Frau Holle die Glieder geruht, die Haare geordnet, so wanderte sie weiter um ihren Berg, bis sie am Osthang das Wiesental mit dem Weiher fand, der ihren Namen trägt. Hier streifte sie ihre Kleider ab und warf das Weiberhemd auf den Rasen, wo es noch heute liegt. Sie netzte den Fuß und stieg in das taufrische Bad, das ihr holde Jugend und Kraft verlieh. Als sie neue Kraft geschöpft, tauchte sie durch das Brunnentor ganz in ihr unterirdisches Reich, wo in dem immergrünen Garten ihr Haus steht. 

Hier hütete sie die ungeborenen Kinderseelen, die ihr einst der Herrgott anvertraut hatte, bis daß sie neu geboren würden
zum Erdenwandel aus ihrem gesegneten Kinderhorn,
den die Leute noch heute Frau Hollenteich heißen.






Karl Paetow, Frau Holles Heimkehr zum Meißner.
In: Frau Holle: Märchen und Sagen, Kassel, 1952, S. 7 und 8





























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