Im Reich der Frau Holle









Annette Rath-Beckmann
Historikerin | Matriarchatsforscherin

Frau Holle im Born



s lebte einmal ein Witwer mit seiner Tochter in häuslicher Eintracht. Am Abend weilte dies Mädchen gerne bei Nachbars Kind; dem aber war der Vater gestorben. Da sagte die Mutter von diesem Mädchen: "Dir fehlt die Mutter, und ihr fehlt der Vater, mir mangelt der Mann und deinem Vater die Frau. Geh ihm einmal unter die Augen und frage in meinem Namen, ob er mich nicht zum Weibe will. Dann ist uns doch allen geholfen. Du aber sollst jeden Tag roten Wein trinken und dir in weißer Milch deine Wangen waschen. " Da ging das Mädchen nach Hause und trug dem Vater dies lockende Angebot vor.

Der Witwer meinte: "Ich habe auch schon auf solches gedacht, bin mir aber eben nicht schlüssig geworden. Nimm jetzt diesen Stiefel, fülle ihn mit Wasser - und hänge den alten Wanderburschen auf unseren Boden. Hält er dicht, so will ich es einmal noch mit der Ehe versuchen. Rinnt er aber, dann soll mir das eine Warnung sein."

Die Tochter tat, wie der Vater geheißen. Als sie aber am kommenden Morgen den Boden betrat, da hatte die Feuchte das Leder aufgequollen und die Löcher zusammengezogen, so daß der Stiefel das Wasser festhielt. Und in der Folge nahm der Vater die Witwe zum Weib. Am ersten Morgen stand vor dem Bette der Mannestochter Rotwein zum Trinken  und Süßmilch zum Waschen.  Vor dem Bett der Stiefschwester aber stand Wasser zum Trinken und Wasser zum Waschen. Am zweiten Morgen stand vor dem Bette der Mannestochter Rotwein zum Trinken und Wasser zum Waschen, vor dem Bette der Stiefschwester aber Wasser zum Trinken und Süßmilch zum Waschen. Am dritten  Morgen schon hatte das Blättchen sich völlig gewendet. Die Mannestochter fand Wasser  zum Trinken und Wasser zum Waschen. Rotwein und Süßmilch aber waren der Stiefschwester zugeschoben. Und so blieb es auch in der Folge. Nun mußte die­ Mannestochter alle Schmutzarbeit machen, und die Stiefschwester spielte die Prinzessin. Abends, wann sie dann gemeinsam am Brunnen saßen und spinnen sollten, trieb die böse Schwester in ihrem Übermut allerlei Schabernack, kunkelte da herum, und einmal fiel ihr die Spindel in den Born. Da schrie sie so wütend auf und gab der Stiefschwester alle Schuld, zeterte auch so lange, bis die Gute nach der sinkenden Spindel griff. Aber die sog sich rasch voll Wasser und sank. Da rutschte das Mädchen in seinem Eifer vom Brunnenrand, brach durch die Spiegelhaut  des Wassers und meinte nun zu ertrinken. Aber  sie  erstickte doch nicht,  sondern schwebte in einer Luftblase ganz sanft auf den Grund, wie in einer kristallenen Kugel. Die aber wuchs um sie gleich einem silbernen Mantel. Dieser zersprang und milde Frühlingsluft brach herein. Die Maid war nun auf einer üppigen Wiese gelandet. Da grünte und blühte ein ewiger Mai, und sie tanzte vor Lebenslust über den blumigen Rasen. So begegnete ihr eine rotbunte Kuh. "Muh", sagte die Kuh, „liebes Mädchen, melk mich du!" Und das Mädchen schürzte den Rock, tätschelte die Schecke und melkte sie. Dann tanzte sie weiter und kam unter einen Apfelbaum. Der hing lastenschwer voll der schönsten Äpfel. "Schütte! uns ab, schüttel uns ab", riefen die Äpfel, "wir sind schon viel zu reif!" Da umspannte das Mädchen den Stamm und schüttelte und rüttelte, daß alle Apfel ins Gras kollerten. Dann tanzte sie weiter und kam an ein Backhaus. Da schlug ihr die bullernde Glut entgegen. Es ruffte und puffte im Ofenloch, und die Brote schrieen aus ihrem warmen Brodem: "Zieh uns raus, zieh uns raus, wir sind schon gar, ganz gar!" Da nahm sie behende den Brotschieber und zog die duftenden Laibe heraus. Dann tanzte sie weiter und wurde immer vergnügter. Da gewahrte sie ein kleines Haus mitten in einem wohlgezirkelten Garten. Vor der Haustüre saß eine freundliche Frau, spann einen silbernen Faden, nickte und sprach: "Liebes Kind, du kommst mir recht, habe weder Magd noch Knecht!"

Und das Mädchen verdingte sich als Magd bei der Alten und versorgte ihr die ganze Wirtschaft. Weil sie aber willig und freudig diente, hatte sie gute Tage, satt zu essen und freundliche Worte. Denn sie war ja bei der Frau Holle, welche die Herzen der Menschen erprobt. Die zeigte ihr allerlei Künste und Griffe bei ihrer häuslichen Arbeit, lehrte sie auch die Betten schütteln, daß alle Federn nur so flogen. Dann riefen die Menschenkinder: "Es schneit, es schneit, Frau Holle schüttelt die Betten aus!" Aber über ein Jahr kriegte das Mädchen den Jammer nach seinem Vater. Da sagte Frau Holle: "Nun ist es genug! Wie die Arbeit, so der Lohn. Dort jenseits der großen Wiese steht das Lebenstor, es führt zurück ins Menschenland. Geh, Goldtöchterchen, und sei gesegnet!"

Da schürzte das Mädchen vor Freude das Röckchen, nahm dankbar Abschied und tanzte dann wieder über den Blumenrasen bis vor das Tor. Dunkel wars, aber sie nahm sich ein Herz, neigte sich unter dem Bogen und überschritt die schwarze Schwelle. Wie sie aber eben unter dem Türsturz stand, da sprühte ein blendender Strahlenregen auf ihren Scheitel und übergoß ihr Kleid mit goldenem Flitter. Das Gold umschloß ihre ganze Gestalt und umwallte sie wie ein Mantel. So kam sie geschmückt an die Oberwelt und erkannte ihr Vaterhaus neben dem Born. Als sie aber eben durchs Hoftor schritt, da flog der Hahn auf den Torbalken, schlug mit den Flügeln und schrie:

"Kikeriki!
 Goldtöchterchen ist wieder hie!"

Also fröhlich begrüßt betrat sie das Haus und fand die Eltern und ihre neidische Schwester am Tisch. Weil sie aber so überwältigend schön war und in ihrer Güte alles überstrahlte, so konnte ihr keiner mehr gram sein, ja selbst die Stiefmutter mußte sie gelten lassen.

Nun hatte die böse Stiefschwester keine gute Stunde mehr. Und sie beschloß, den Zauber des Brunnens auch zu nutzen. So warf sie noch einmal die Spule hinab, bückte sich über und sprang ihr nach. In einer Luftblase sank sie zum Grunde, stand auf der Wiese und suchte sogleich das glückhafte Häuschen. Da stellte sich ihr die Kuh in den Weg. "Muh", sagte die bunte Kuh, "liebes Mädchen, melk mich du!" Aber die Faule rief: "Hab keine Zeit, hab's noch so weit!" und rannte dem Häuschen zu, das sie ferne erkannte. Da stellte sich ihr der Apfelbaum in den Weg, und es raunte in seinem Gezweig. "Schüttel uns ab, schüttel uns ab", riefen die Äpfel, "wir sind schon viel zu reif!" Aber das dumme Ding sann nur auf den goldenen Lohn und rief: "Hab keine Zeit, hab's noch so weit!" und rannte auf das Häuschen zu. Da stellte sich ihr der Backofen in die Quere. Die Brote dufteten, pufften und riefen:  "Zieh uns raus, zieh uns raus, wir sind schon gar,  ganz gar!" Aber das Mädchen rannte vorüber, hätte sich auch noch beinah an dem Holunderstrauche gestoßen und rief nur schnippisch: "Hab keine Zeit, hab's noch so weit!" So stürzte sie davon und kam ganz atemlos an das Haus.

Da saß Frau Holle vor der Türe, spann einen schwarzen Faden, schüttelte den Kopf und sprach: "Bist du da, so kommst du recht, habe weder Magd noch Knecht!" Und das Mädchen verdingte sich schnell als Magd. Am ersten Morgen war sie auch so willig wie nie, sprang wie ein Wiesel und verrichtete alles nach Geheiß und Gebot. Aber schon am zweiten Morgen nahm sie sich Zeit. Am dritten Morgen begann der alte Schlendrian. Lange hielt es die Faule nun nicht mehr aus, hatte nur noch die goldene Pforte im Sinn und sagte auch bald wieder den Dienst auf. Frau Holle war' s wohl zufrieden, wies ihr den Weg nach dem dunklen Tor, und das Mädchen schritt keck in die Höhle. Aber als sie eben unter dem Türsturz stand, da kippte oben ein Kessel voll Pech aus, und es troff und floß und goß sich der dicke Teer über sie aus, hängte sich in die Haare, klebte ihr im Gesicht, besudelte die Kleider und umwallte sie wie ein schlackerschwarzer Mantel. So kam sie heulend ans Tageslicht und trat verwüstet durchs Tor in den Hof. Der Haushahn aber stand eben auf der Miste, schlug mit den Flügeln und schrie:

"Kikerikie!
Unsere schwarze Hexe ist wieder hie!"

Da wandten sich alle Menschen von ihr ab und keiner wollte
sie fürderhin lieb haben, selbst ihre leibliche Mutter
nicht, weil sie in ihrer ganzen Faulheit und
Boshaftigkeit gezeichnet war.




Karl Paetow, Frau Holle im Born. In: Frau Holle: Märchen und Sagen,
S. 30 - 34































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