Im Reich der Frau Holle

Annette Rath-Beckmann
Historikerin | Matriarchatsforscherin

Frau Holle und der Glasbläser



er Glasmacher Henrich Kunkel aus Wickenrode stieg dem verschneiten Walde zu, welcher den Hirschberg wie ein Silberpelz von Rauhreif umhüllte. Der Meister war lebensbitter und traurig bis auf den Tod. Sonst hatte er um die Weihnachtszeit die grünen Gläschen und Flaschen, auch einmal Spielkram und Tand, Hasen, Füchse und Vögel für den Weihnachtsmarkt in der Hauptstadt geblasen. In diesem Jahr aber hockte die Schwarze Katze in seinem Schmelzofen und wollte vor keinem glühenden Glasfluß weichen.

Mit müden Augen schlich sich der Meister dem Waldrand zu. Er sah nicht das eisige Zuckerweiß und den Blitz der Kristalle auf jedem Halm. Er hörte auch nicht das silberne Klingeln vom Hirschhorn, der durch die glimmernde Eishaut brach. Alles war ja wie kaltes Glas, er aber wollte dies gläserne Gleichnis nicht schauen. Er sah nur die vielen hungrigen Mäuler um seinen Tisch und den stummen Kummer seiner Frau. Denn der Landgraf zu Kassel hatte ein strenges Gesetz erlassen, das allen Glasmachern verbot, ihr Holz in den fürstlichen Wäldern zu schlagen. Wie aber sollte er Gläser brennen, wenn es kein Holz zum Schmelzen gab? Denn vom Glas kam ihnen allein das täglich Brot.

So haderte er mit Gott, und die Last seiner Not drückte ihn schier zu Boden. Da hob sich eine mächtige Hutebuche kahl vor dem Abend. Von hier aus sah man das dämmernde Tal von Kassel, das Schloß an der Fulda, in welchem der Landgraf solche Verordnung erlassen hatte. Aber den Sternen war man auch schon näher als unten im Grund, wenn auch ein bleiches Wolkengrau die Lichter des Himmels verhüllte. Und hier war der Ort, wo der Meister dem sinnlos gewordenen Leben aufsagen wollte. Er bestieg eine wulstige Wurzel und prüfte die Kraft des unteren Astes. Dann warf er den Strick darüber und knüpfte sich zitternd die Todesschlinge.

"Glasmacher, was baumelt der Strick an dem Ast?" sprach eine Stimme. Erschrocken warf sich Kunkel herum. Da trat eine hohe, weiße Gestalt aus dem Baumstamm hervor.
"Willst Hand an dich legen?" fragte die Frau, "damit deine Kinder am Hunger sterben?"
"Weil sie am Hunger sterben", stotterte er, "kein Brand, kein Glas, kein Brot -". Aber die Elbin nestelte den Strick von dem Ast und legte die Schlinge zu Boden.
"Da sieh hinein", befahl sie.
Der Mann gehorchte und blickte durch.das Rund der Leine wie durch ein Fenster.
"Was siehst du?"
"Ich sehe", sagte der Glasmacher, "der ganze Berg unter mir ist durchsichtig wie aus gegossenem Glas. Und mein Blick reicht weit in den Abgrund, wo sich die Elemente brodelnd vermischen."
"Was siehst du oben?"
"Ich sehe", sagte der Meister, "wie alle Blumen ruhen im Grund ihrer Wurzeln und alles Getier und Gewürm den Winterschlaf hält in seinen Höhlen. Da unten liegt auch in seinem Kessel eingerollt der dicke Dachs und blinzelt listig herauf. Zwischen den Tieren und Elementen aber im Zwischenreich wimmelt es jetzt von Kobolden, die fieberhaft schaffen. Die schippen und schleppen, die punzen und putzen, ein emsiges Völkchen."

"Das sind die Seelen der Ungeborenen und der Toten", sagte die Frau. "Sie hausen und wirken im Innern fort für die Lebenden. Aber was tut sich nun bei dem Volke?"
"Ich sehe, die einen schmieden edle Gesteine in funkelnde Ringe. Neue kommen und bauen kristallene Brücken zu blühenden Gärten. Die anderen formen helle Gefäße und Becher aus zartem Glasfluß, dergleichen Gestaltung ich niemals noch sah. Auf die klare Glaswand malen sie den Schimmelreiter mit farbigem Schmelz, wie er den Hirsch jagt im grünen Grunde. Da laufen die weißen Hündchen dem Schimmel unter dem Bauch und machen giff-gaff. Da leuchtet alles so fröhlich herauf, ach könnt ich bei meinen Tagen noch solche Herrlichkeiten erschaffen wie die!"
"Merk alles wohl", wies die gütige Frau, "was die da unten formen, dergleichen sollst du bald selber blasen und bilden. Doch sage, was tut sich mehr?"
"Ich sehe in ungeheurer Tiefe die feurigen Wurzeln von einem steinernen Baum. Der wächst aus dem Feuermeer herauf als ein dunkler Stamm und hat seine Krone aus blauem Basalt bis in die Kuppel des Berges gereckt. In ihrem Schatten schichten sich die Kristalle von Salz und Alaun."
"Und was erscheint nun?"
"Darunter wellt sich klaftermächtig ein braunes  Lager, das ich nicht kennen und deuten kann."
"Dies ist das Flöz", sprach die Frau, "verkommenes Holz von gewaltigen Wäldern, die vor undenklichen Erdentagen hier gegen dein Leid gewachsen sind. Kohle nennen es die Zwerge und brauchen es lange schon, denn es heizt besser als Holz. Sieh hier!"

So stieß sie mir ihrem goldenen Schuh einen braunen Stein an, den hatte der Dachs aus seiner Höhle gerollt. "Hier ist solche Kohle, und dort liegt mehr. Lies alles auf, wende dich deiner Hütte zu und schüre ein großes Feuer an. Dann sollst du Gläser blasen nach meinem Willen, wie sie die Unterirdischen bilden. Denn dein letztes Brot ist noch lange nicht gebacken."

Leise trat die Erscheinung zurück in den Baum und tauchte ein in die Dämmerung seiner Rinde.

Da raffte Kunkel die Steine in seinen Schurz. Er wunderte sich, wie leicht sie wogen. Aber seinem Glasofen gaben sie mehr Glut als das Knasterholz aus dem Landgrafenwald. Schon schmolz das Glas in dem feurigen Hafen. Mit Ungeduld tauchte der Meister sein Blasrohr ein und blies einen glühenden Becher. Den trieb er in wundersame Gestalt, wie sie die Unterirdischen vorgebildet hatten. Und auch das Geheimnis der Glasmalerei wurde ihm da in Gnaden geoffenbart.

Im Rausch seiner Freude rief der Meister nach seiner Frau und erzählte ihr fliegenden Atems von seinen brennenden Steinen. Aber die Arme glaubte nicht anders, als ihr Mann hätte vor Gram und Groll den Verstand verloren. Denn wie sollte er wohl zu Wege bringen, mit Steinen zu heizen?

"Henrich, bedenk dich!" mahnte sie, "wie seinerzeit der Venediger hier herumgeschürft hat. Der hat uns damals auch goldene Berge verheißen. Aber am Ende kam uns die Brüh teurer als die Brocken. Denn du siehst immer nur den Speck, aber wo die Mausefalle steht, das willst du nicht wahrhaben!"

"Wer das Ziel sieht, ist halb schon da", rief Kunkel voll Zuversicht, öffnete die Ofenklappe und warf eine paar Steine in die Feuerung. Gleich schlug ihnen die bullernde Glut in die Augen, und das Glas im Hafen schmolz glührot hin. So wurde auch sie dieses Wunders inne, lachte wie von Sinnen, schlug die Arme in die Luft und wirbelte durch die Werkstatt. Dann hing sie ihrem Manne schon am Hals und küsste sein stoppeliges Gesicht. "Ach", rief sie, "das muß ja wahr sein, denn heute ist Altjahrsabend. Da kommt Frau Holle vom Meißner herab und geht zu den Menschen. Und wo sie fährt, da wird beschert!"

Der Blick in die Todesschlinge hatte dem Künstler die Seele gelöst. Da schuf der Gläsner Kunkel ein neues Glas. Wasserklare Gemäße und bilderbuchbunte Humpen verließen die Werkstatt zu Wickenrode. Die Mädchen begehrten die Gläser und Pullen als Brautgeschenk für ihre Liebsten. Dem Landgrafen selbst, als ihm die sinnreichen Becher gebracht wurden, erhöhten sie seine Tafelfreuden, daß er nur noch aus solchen Behältern den Trunk nahm. Die ganze Ritterschaft ahmte ihm nach und bestellte in Wickenrode ihr Trinkgeschirr, das ihnen der Meister mit Wappensprüchen und Bildern verzierte. Das Urbild der Unterirdischen wurde von Kunkel und seinen Gesellen erreicht. Der Ruf seiner Kunst drang über Hessens Grenzen, und niemals erlosch das bildende Feuer in seiner Hütte. Denn es wurde genährt von Frau Holles Kohle, die Kunkels Knappen im Berge ergruben.

So war denn alle Not gewendet, und der Glasbläser lebte
mit seiner Familie in ehrlichem Wohlstand. Da gab
es nun alle Tage Ofenklatschkuchen und Klapperei.





Karl Paetow, Frau Holle und der Glasbläser. In: Frau Holle: Märchen und Sagen, S. 101 - 105































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