Im Reich der Frau Holle

Annette Rath-Beckmann
Historikerin | Matriarchatsforscherin

Frau Holle und der krumme Lutz



or grauen Zeiten erhob sich im Frankenland eine Burg, hoch oben auf den Rebenhängen des Sehellenberges. über ihre Dächer wölbte sich eine kronengewaltige Linde. Und diese Linde war ein Lebensbaum. Denn es ging von ihr die Verheißung: wenn sie einmal verdorren sollte, dann werde dies Schloß auch in Trümmer sinken, und die Herren auf Schellenberg müßten ins Elend wandern.

Als nun das Schicksal dieses Geschlechtes durch Menschenschuld vor der Erfüllung stand, da lebte eben auf diesem Schlosse ein Edelmann mit seinen zwei Söhnen. Der eine war schön und gerade gewachsen und stark wie ein Hirsch. Der zweite dagegen hatte aus einer Kinderkrankheit ein verwachsenes Bein behalten und kränkelte sehr daran. Sie nannten ihn darum den krummen Lutz.

Wie nun der alte Ritter den Tod im Herzen spürte, ließ er die beiden Söhne kommen. Er gab dem Gesunden die Burg, dazu das Land und eine Kiste voll Gold. Dafür mußte der Erbe ihm heilig versprechen, den krummen Lutz bis an das Ende ehrlich und brüderlich zu halten. Der Bruder beschwor dies durch Handschlag. Aber kaum war der Vater unter der Erde, so stieß er den Jüngeren aus seiner Burg. Er ließ ihn im Stall bei den Tieren schlafen und mit den Hunden aus einer Schüssel essen.

Da endlich ermannte sich der Enterbte, trat vor seinen Bruder und forderte sein väterliches Erbteil, um in der weiten Welt sein Glück damit zu versuchen. Aber der Schloßherr lachte den Krüppel aus und warf ihn kurzerhand vor die Türe, ohne einen blinden Heller herauszugeben. Da wandte der arme Lutz seiner Heimat den Rücken und ging in den Wald. Kummervoll irrte er umher, bis er am Abend ein stilles Tal fand. Dort hockte er nieder auf einen Stein, vergrub das Gesicht in beide Hände und weinte wie ein Kind. Das Bild seiner toten Mutter trat lebhaft vor sein inneres Auge und ihm war, als hörte er wieder die Stimme über sich trösten, wie einst als Knabe, wenn er mit seinen kleinen Leiden in ihre Arme geflohen war.

Als er aber endlich aus seinen Tränen aufschaute, noch lauschend auf die verworrenen Stimmen des Trostes, da sah er neben sich ein altes Mütterchen. Das wackelte mit dem Kopf und spann und spann einen langen Faden. Es war dies Frau Holle, die hatte sich wie eine Bäuerin angetan. Sie fragte den Burschen nach seiner Traurigkeit. Der aber antwortete ihr: "Ach Mütterchen, was kannst du schon helfen!"
"Ich kenne dich wohl," sagte die Alte, "denn du bist der krumme Lutz. Ich kenne den anderen auch und weiß um sein Unrecht. Wenn du mir aber folgen willst, so soll schon Rat werden."

Da wurde dem armen Lutz so eigen ums Herz, wie bei der lieben Mutter Ruf, und er schüttete  den ganzen Kummer aus seinem Herzen. Sie sprach: "Das soll mein Rat sein: komm mit in mein Haus. Da kannst du wohnen und wirken, bis die drei Jahre herum sind. Vielleicht bereut dein Bruder sein Unrecht und zahlt dir dein Erbteil aus."

So kam denn der Lutz in das Haus der Frau Holle. Denn er wußte doch nicht, wohin in aller Welt er sich wenden sollte. Hier war ein Garten, den mußte er pflegen, und vor allem durfte er einen Rosenstock nicht vergessen, der dort an dem Brünnlein erblüht war. Auch mußten die Katzen pünktlich ihr Futter haben, und dann war ein Acker zu bestellen. Im Winter hockte er aber hinter dem Ofen, schnitzte Pfahlstecken für die Weinbergbauern und Fischerstangen für die Schiffsleute auf dem Mainstrom. Das alles trug er dann im Frühling hinaus in das Stromland und verdiente sich damit ein schönes Geld. Dann humpelte wohl Frau Holle neben ihm her. Es war ihre Gewohnheit, daß sie immer einen Spinnstock zur Hand hatte, auf den sie sich stützte, und ihre Kötze war proppenvoll mit den feinsten Garnen, die sie im Winter gesponnen hatte. Es kam auch wohl vor, daß dem kränklichen Knecht die Fischerstangen und Pfahlstecken zu schwer wurden, dann lud sie sich das ganze Zeug auch noch auf ihre Kiepe, als wär alles ein Strohwisch. Zwischen Faulbach und Hasloch aber machten sie immer Rast und setzten sich auf einen Stein. Da sind noch heute die Spuren zu sehen, wo ihre Kötze gestanden hat. Denn die Kuhlen im Stein sind geblieben bis auf diesen Tag. So kriegte Frau  Holle den Lutz an die Arbeit. Aber mit jedem Schweißtropfen rann auch ein Stücklein der Krankheit aus seinem Blut, und das krumme Bein begann sich zu recken und wurde gesund.

Drei Jahre sind bald herum, wenn sie ein frommes Tagwerk ausfüllt. In der Sonnenfrühe des vierten Jahrestags seiner Einkehr ins Waldhaus erschien ihm Frau Holle und sprach: "Heute wollen wir deinen Bruder besuchen und zusehen, ob sich sein Herz gewandelt hat". So nahm sie denn ihren Spinnstab, hing sich die Kiepe auf den Buckel, und unser Lutz trottete hinterdrein. Am Mittag standen beide im Schloßhof. Da saß der Ritter, Kühlung suchend, im Schatten der Linde, denn es war ein schwüler Tag. Der Baum aber blühte über und über in süßem Gedüft, und die Vögel sangen aus seinem Laub. Frau Holle trat vor den Edelmann hin und sprach ihn an: "Es sind nun drei Jahre, da hast du den Bruder von Burg und Erbe verjagt. Heute kommt er zurück und fragt dich in aller Güte, jedoch - das bedenke und wäge wohl - auch zum letzten Mal: willst du ihm nun sein Erbteil erstatten?"

Aber der Burgherr fuhr auf und schrie: "Raus aus der Burg, Lumpenpack! Raus, raus! sonst schlag ich dir die Hutzel vom Kragen, und dem sauberen Krüppel da hau ich das andere Bein auch noch zu Bruch und Klumpen!"

Da sah Frau Holle wohl ein, daß sich der Böse nicht wandeln wollte. Sie packte ihren Spinnstock und stieß ihn zornig in den Baumstamm. Alsbald flogen die Vögel auf und flohen kreischend in alle Winde. Dann gilbten die Blätter, und das Laub regnete sturmgeschüttelt aus allen Zweigen. Und nun sprach Frau Holle ihren Fluch: "Du entarteter Bruder sollst verdorren, so wie dies Laub vom Baum vertrocknet ist. Dein Schloß soll verrotten, und du sollst vom Unglück geschlagen werden bis an dein elendes Ende!"

Nach diesem Fluch floh alles Lebensglück aus der Burg. Es starb das Vieh, die Hunde verreckten, und kein Knecht wollte mehr bei dem verdammten Burgherren dienen. Herbst­ stürme zerrten die Dächer weg, der Regen, der Schnee erweichten die Mauern, der Frost zersprengte die Felsen, und Tor und Türme sanken in Trümmer. Zuletzt mußte der Edelmann einsam wie ein verfolgtes Tier im Keller hausen. Hier lag er hungrig und zähneklappernd und bewachte sein verfluchtes Gold. Als aber der Frühlingssturm über das Land fuhr, da riß er auch die verdorrte Linde zu Boden. Ihre Trümmer klemmten sich mit aller Wucht vor den Kellerhals. Nun war der Bösewicht bei lebendigem Leibe begraben. Frau Holles Fluch hatte sich schrecklich an ihm erfüllt.

Im Gewitter der Mainacht fuhr Frau Holle zur Burg. Sie öffnete noch einmal das morsche Gemäuer und nahm von dem Schatz des Toten die Hälfte fort. Dann ließ sie die Tonnen­gewölbe ganz versinken. Das Erbteil brachte sie ihrem harrenden Lutz und sprach: "Nun ist alles gerecht und gerichtet. Er hat das Seine, und du hast das Deine, wie es der Vater gemeint hat. Aber vermeide diesen verfluchten Ort und ziehe nach Westen. Jenseits des Rheines erhebt sich ein Berg, der heißt nach dem Hund. Auf dessen Rücken sollst du dich anbauen. Du warst mir ein lieber Sohn, nun reise mit Gott!"

So verließ denn Lutz das trauliche Tal mit Wehmut im Herzen und zog in den Abend. Da fand er unter dem Goldgewölk das blaue Gebirge des Hunsrück gebreitet. Und hier, am Ziel seiner Bestimmung, erwarb er von seinem Vermögen ein stattliches Gut. Da durfte er nun als Herr auf eigenem Grunde wirken und schalten. Weit reichte sein Blick über die goldene Au, den gesegneten Rhein und seinen kleineren Bruder, den Mainstrom. Und ein gutes Geschick führte dem Lutz bald ein Mädchen zu, das ihm als Gattin und Hausmutter gleicherweise in Treue beistand.

Immer lag fühlbarer Segen auf Feld und Frucht. Seuchen und Ungeziefer kannten sie kaum, und wenn in der Herrgottsfrühe die Schnitter mit blinkenden Sensen zu Felde zogen, so fanden sie oft schon das Korn in Garben gebunden und aufgebockt vor. Keiner kannte die helfende Hand als Lutz, der wohl wußte, wem er dies alles zu danken hatte.

Als aber dann ein Stammhalter geboren wurde, da drängte es ihn, Frau Holle sein Glück anzusagen. So machte er sich denn auf und wanderte einmal noch in das Land seiner Jugend. Aber das stille Tal, in welchem vor Zeiten Frau Holles Haus gestanden, wollte sich ihm nicht wieder enthüllen. Er lief und rief den ganzen Tag und konnte es doch nicht erreichen. Schon waren rings am Himmelsbogen die flimmernden Lichter der Sterne entflammt. Da fand er sich plötzlich dicht neben seinem Hause im Walde wieder.


Da fand er sich plötzlich dicht neben seinem Hause im Walde wieder. So spürte er wohl, daß Frau Holle
unsichtbar bleiben wollte, und daß es nun
am Segen genug war.




Karl Paetow, Frau Holle und der krumme Lutz. In: Frau Holle: Märchen
und Sagen, S. 19 - 23




























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