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grauen Zeiten erhob sich im Frankenland eine Burg, hoch oben auf den
Rebenhängen des Sehellenberges. über ihre
Dächer
wölbte sich eine kronengewaltige Linde. Und diese Linde war
ein
Lebensbaum. Denn es ging von ihr die Verheißung: wenn sie
einmal
verdorren sollte, dann werde dies Schloß auch in
Trümmer
sinken, und die Herren auf Schellenberg müßten ins
Elend
wandern.
Als nun das Schicksal dieses Geschlechtes durch Menschenschuld vor der
Erfüllung stand, da lebte eben auf diesem Schlosse ein
Edelmann
mit seinen zwei Söhnen. Der eine war schön und gerade
gewachsen und stark wie ein Hirsch. Der zweite dagegen hatte aus einer
Kinderkrankheit ein verwachsenes Bein behalten und kränkelte
sehr
daran. Sie nannten ihn darum den krummen Lutz.
Wie nun der alte Ritter den Tod im Herzen spürte,
ließ er
die beiden Söhne kommen. Er gab dem Gesunden die Burg, dazu
das
Land und eine Kiste voll Gold. Dafür mußte der Erbe
ihm
heilig versprechen, den krummen Lutz bis an das Ende ehrlich und
brüderlich zu halten. Der Bruder beschwor dies durch
Handschlag.
Aber kaum war der Vater unter der Erde, so stieß er den
Jüngeren aus seiner Burg. Er ließ ihn im Stall bei
den
Tieren schlafen und mit den Hunden aus einer Schüssel essen.
Da endlich ermannte sich der Enterbte, trat vor seinen Bruder und
forderte sein väterliches Erbteil, um in der weiten Welt sein
Glück damit zu versuchen. Aber der Schloßherr lachte
den
Krüppel aus und warf ihn kurzerhand vor die Türe,
ohne einen
blinden Heller herauszugeben. Da wandte der arme Lutz seiner Heimat den
Rücken und ging in den Wald. Kummervoll irrte er umher, bis er
am
Abend ein stilles Tal fand. Dort hockte er nieder auf einen Stein,
vergrub das Gesicht in beide Hände und weinte wie ein Kind.
Das
Bild seiner toten Mutter trat lebhaft vor sein inneres Auge und ihm
war, als hörte er wieder die Stimme über sich
trösten,
wie einst als Knabe, wenn er mit seinen kleinen Leiden in ihre Arme
geflohen war.
Als er aber endlich aus seinen Tränen aufschaute, noch
lauschend
auf die verworrenen Stimmen des Trostes, da sah er neben sich ein altes
Mütterchen. Das wackelte mit dem Kopf und spann und spann
einen
langen Faden. Es war dies Frau Holle, die hatte sich wie eine
Bäuerin angetan. Sie fragte den Burschen nach seiner
Traurigkeit.
Der aber antwortete ihr: "Ach Mütterchen, was kannst du schon
helfen!"
"Ich kenne dich wohl," sagte die Alte, "denn du bist der krumme Lutz.
Ich kenne den anderen auch und weiß um sein Unrecht. Wenn du
mir
aber folgen willst, so soll schon Rat werden."
Da wurde dem armen Lutz so eigen ums Herz, wie bei der lieben Mutter
Ruf, und er schüttete den ganzen Kummer aus seinem
Herzen.
Sie sprach: "Das soll mein Rat sein: komm mit in mein Haus. Da kannst
du wohnen und wirken, bis die drei Jahre herum sind. Vielleicht bereut
dein Bruder sein Unrecht und zahlt dir dein Erbteil aus."
So kam denn der Lutz in das Haus der Frau Holle. Denn er
wußte
doch nicht, wohin in aller Welt er sich wenden sollte. Hier war ein
Garten, den mußte er pflegen, und vor allem durfte er einen
Rosenstock nicht vergessen, der dort an dem Brünnlein
erblüht
war. Auch mußten die Katzen pünktlich ihr Futter
haben, und
dann war ein Acker zu bestellen. Im Winter hockte er aber hinter dem
Ofen, schnitzte Pfahlstecken für die Weinbergbauern und
Fischerstangen für die Schiffsleute auf dem Mainstrom. Das
alles
trug er dann im Frühling hinaus in das Stromland und verdiente
sich damit ein schönes Geld. Dann humpelte wohl Frau Holle
neben
ihm her. Es war ihre Gewohnheit, daß sie immer einen
Spinnstock
zur Hand hatte, auf den sie sich stützte, und ihre
Kötze war
proppenvoll mit den feinsten Garnen, die sie im Winter gesponnen hatte.
Es kam auch wohl vor, daß dem kränklichen Knecht die
Fischerstangen und Pfahlstecken zu schwer wurden, dann lud sie sich das
ganze Zeug auch noch auf ihre Kiepe, als wär alles ein
Strohwisch.
Zwischen Faulbach und Hasloch aber machten sie immer Rast und setzten
sich auf einen Stein. Da sind noch heute die Spuren zu sehen, wo ihre
Kötze gestanden hat. Denn die Kuhlen im Stein sind geblieben
bis
auf diesen Tag. So kriegte Frau Holle den Lutz an die Arbeit.
Aber mit jedem Schweißtropfen rann auch ein
Stücklein der
Krankheit aus seinem Blut, und das krumme Bein begann sich zu recken
und wurde gesund.
Drei Jahre sind bald herum, wenn sie ein frommes Tagwerk
ausfüllt.
In der Sonnenfrühe des vierten Jahrestags seiner Einkehr ins
Waldhaus erschien ihm Frau Holle und sprach: "Heute wollen wir deinen
Bruder besuchen und zusehen, ob sich sein Herz gewandelt hat". So nahm
sie denn ihren Spinnstab, hing sich die Kiepe auf den Buckel, und unser
Lutz trottete hinterdrein. Am Mittag standen beide im
Schloßhof.
Da saß der Ritter, Kühlung suchend, im Schatten der
Linde,
denn es war ein schwüler Tag. Der Baum aber blühte
über
und über in süßem Gedüft, und die
Vögel
sangen aus seinem Laub. Frau Holle trat vor den Edelmann hin und sprach
ihn an: "Es sind nun drei Jahre, da hast du den Bruder von Burg und
Erbe verjagt. Heute kommt er zurück und fragt dich in aller
Güte, jedoch - das bedenke und wäge wohl - auch zum
letzten
Mal: willst du ihm nun sein Erbteil erstatten?"
Aber der Burgherr fuhr auf und schrie: "Raus aus der Burg, Lumpenpack!
Raus, raus! sonst schlag ich dir die Hutzel vom Kragen, und dem
sauberen Krüppel da hau ich das andere Bein auch noch zu Bruch
und
Klumpen!"
Da sah Frau Holle wohl ein, daß sich der Böse nicht
wandeln
wollte. Sie packte ihren Spinnstock und stieß ihn zornig in
den
Baumstamm. Alsbald flogen die Vögel auf und flohen kreischend
in
alle Winde. Dann gilbten die Blätter, und das Laub regnete
sturmgeschüttelt aus allen Zweigen. Und nun sprach Frau Holle
ihren Fluch: "Du entarteter Bruder sollst verdorren, so wie dies Laub
vom Baum vertrocknet ist. Dein Schloß soll verrotten, und du
sollst vom Unglück geschlagen werden bis an dein elendes Ende!"
Nach diesem Fluch floh alles Lebensglück aus der Burg. Es
starb
das Vieh, die Hunde verreckten, und kein Knecht wollte mehr bei dem
verdammten Burgherren dienen. Herbst stürme zerrten
die
Dächer weg, der Regen, der Schnee erweichten die Mauern, der
Frost
zersprengte die Felsen, und Tor und Türme sanken in
Trümmer.
Zuletzt mußte der Edelmann einsam wie ein verfolgtes Tier im
Keller hausen. Hier lag er hungrig und zähneklappernd und
bewachte
sein verfluchtes Gold. Als aber der Frühlingssturm
über das
Land fuhr, da riß er auch die verdorrte Linde zu Boden. Ihre
Trümmer klemmten sich mit aller Wucht vor den Kellerhals. Nun
war
der Bösewicht bei lebendigem Leibe begraben. Frau Holles Fluch
hatte sich schrecklich an ihm erfüllt.
Im Gewitter der Mainacht fuhr Frau Holle zur Burg. Sie öffnete
noch einmal das morsche Gemäuer und nahm von dem Schatz des
Toten
die Hälfte fort. Dann ließ sie die
Tonnengewölbe
ganz versinken. Das Erbteil brachte sie ihrem harrenden Lutz und
sprach: "Nun ist alles gerecht und gerichtet. Er hat das Seine, und du
hast das Deine, wie es der Vater gemeint hat. Aber vermeide diesen
verfluchten Ort und ziehe nach Westen. Jenseits des Rheines erhebt sich
ein Berg, der heißt nach dem Hund. Auf dessen Rücken
sollst
du dich anbauen. Du warst mir ein lieber Sohn, nun reise mit Gott!"
So verließ denn Lutz das trauliche Tal mit Wehmut im Herzen
und
zog in den Abend. Da fand er unter dem Goldgewölk das blaue
Gebirge des Hunsrück gebreitet. Und hier, am Ziel seiner
Bestimmung, erwarb er von seinem Vermögen ein stattliches Gut.
Da
durfte er nun als Herr auf eigenem Grunde wirken und schalten. Weit
reichte sein Blick über die goldene Au, den gesegneten Rhein
und
seinen kleineren Bruder, den Mainstrom. Und ein gutes Geschick
führte dem Lutz bald ein Mädchen zu, das ihm als
Gattin und
Hausmutter gleicherweise in Treue beistand.
Immer lag fühlbarer Segen auf Feld und Frucht. Seuchen und
Ungeziefer kannten sie kaum, und wenn in der Herrgottsfrühe
die
Schnitter mit blinkenden Sensen zu Felde zogen, so fanden sie oft schon
das Korn in Garben gebunden und aufgebockt vor. Keiner kannte die
helfende Hand als Lutz, der wohl wußte, wem er dies alles zu
danken hatte.
Als aber dann ein Stammhalter geboren wurde, da drängte es
ihn,
Frau Holle sein Glück anzusagen. So machte er sich denn auf
und
wanderte einmal noch in das Land seiner Jugend. Aber das stille Tal, in
welchem vor Zeiten Frau Holles Haus gestanden, wollte sich ihm nicht
wieder enthüllen. Er lief und rief den ganzen Tag und konnte
es
doch nicht erreichen. Schon waren rings am Himmelsbogen die flimmernden
Lichter der Sterne entflammt. Da fand er sich plötzlich dicht
neben seinem Hause im Walde wieder.
Da fand er
sich plötzlich dicht
neben seinem Hause im Walde wieder. So spürte er wohl,
daß
Frau Holle
unsichtbar bleiben wollte, und daß es nun
am Segen
genug war.
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Karl Paetow,
Frau Holle und der krumme Lutz. In: Frau
Holle: Märchen
und Sagen, S. 19 - 23
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