Der Holle-Teich
Der Holle-Teich - der am häufigsten aufgesuchte Ort
- am Osthang des Berges gelegen, ist der Eingang in Frau
Holles
unterirdisches Reich und der Ort, an dem die Seelen sich kurz vor ihrer
Wiedergeburt aufhalten. Er ist gleichsam der Schoß
der Göttin, aus dem alles Leben kommt und in den
es wieder
zurückkehrt.
Holle-Teich - Die weiße Frau
(Wolkenspiegelung)
Foto: Dagmar Krüger
"Vom
Frau Holle-Teich wird
berichtet, dass er einst als das Eingangstor zu Frau Holles
unterirdischem Reich galt, wo sie die Seelen hütet. Sie selbst
zeigte sich manchmal als nebelhafte Weiße Frau auf dem See
oder badete in der Mittagsstunde darin (Frau Hollen Bad).
Auch vermeinte man manchmal am Grunde des Sees dumpfes Grollen oder
dunkles Geläut zu hören. Dabei war ihre Unterwelt
nicht schrecklich, sondern ein Paradies,
der Garten
Immergrün in der Tiefe des Berges, wo Frau Holles
Haus in grünen Wiesen und umgeben von einem Apfelgarten stand.
Eine Kuh mit vollem Euter graste dort, und das Backhaus war stets mit
Brot gefüllt. Hier wohnten die Seelchen, die Frau Holle
glücklich umgaben. Man stellte sich diese jung und zart wie
kleine Kinder vor, manchmal auch als alte, greise Zwerge, als das
Kleine Volk, das bei Frau Holle im Überfluss lebte. Wie sie
die Menschen auf der Oberwelt ernährte, so ernährte
sie auch die Seelen in der Unterwelt bis zu ihrer Wiedergeburt, denn
sie war die Mutter des Lebens im Diesseits und Jenseits.
Volksglauben
und Bräuche umgaben den Frau Holle-Teich auf dem
Weißner. Früher machten die Menschen aus den
Dörfern, die um den Weißner liegen, Prozessionen zu
dem Teich hinauf, und insbesondere kinderlose Frauen pflegten darin zu
baden, wovon sie nach altem Glauben schwanger wurden. Doch nicht nur
kinderlose Frauen, sondern jede junge Frau übte diesen Brauch
aus, denn nach uralter Auffassung schwammen im Frau Holle-Teich die
Seelchen oder saßen auf den Seerosenblättern. Bei
dem Bade konnten sie leicht in eine Frau hineinschlüpfen,
wovon diese schwanger wurde und nach neun Monaten ein Kind gebar, in
dem sich das Seelchen für ein neues Leben
wiederverkörperte. Rituale und Zauberlieder, später
zu Kinderspielen abgesunken, dienten demselben Zweck. Diese Auffassung
zeigt den sehr alten Wiedergeburtsglauben matriarchaler Kulturen, den
es auf der ganzen Erde gab und noch gibt. Ihm gemäß
werden Kinder als wiedergeborene Ahnen und Ahninnen betrachtet, die an
heiligen Ahnen-Steinen oder Ahnen-Teichen und -Seen von den Frauen
abgeholt werden können. Eine Pilgerfahrt zu einem solchen
Teich, See oder Brunnen der Frau Holle ist deshalb zugleich eine
Initiationsreise, die eine junge Frau in eine Mutter verwandeln kann,
die nach matriarchalem Glauben nun um das Geheimnis des Lebensursprungs
und der Wiedergeburt weiß.
Maifest am Holle-Teich: Picknick
Foto: Dagmar Krüger
Der Frau
Holle-Teich wurde demnach als Seelensee betrachtet, der
berühmteste von denen, die wir in Deutschland haben.
Dazu
passt ein altes, öfter vor kommendes Sagenmotiv, dass
er
für unergründlich tief gehalten wurde und kein
Senkblei
seinen Grund erreichen konnte. Man hat dies naturalistisch
missverstanden und technisch nachgeprüft, nur um zu entdecken,
dass der Teich gar nicht so tief ist. Aber es handelt sich hier um eine
symbolische, landschaftsmythologische Aussage: Als Seelensee ist er
gleichzeitig der Schoß
der Göttin, in dem die Ahnen und Ahninnen wohnen
und aus dem sie durch die Wiedergeburt zurückkehren. Damit ist
er ein Schoß
des Lebens, und dessen Tiefe und Geheimnis kann niemand
ergründen."
Heide
Göttner-Abendroth, Matriarchale
Landschaftsmythologie, S.
62 - 64
|
|
|